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Maur
30.08.2024
21.10.2024 09:36 Uhr

Raymond Guggenheim: der Helfer auf der Forch

Raymond Guggenheim setzt sich für die Schwächsten in der Ukraine ein.
Raymond Guggenheim setzt sich für die Schwächsten in der Ukraine ein. Bild: Thomas Renggli
Er war ein erfolgreicher Finanzchef. Dann begann er nochmals von vorne. Heute hilft der Maurmer Raymond Guggenheim den Menschen in der Ukraine.

Sommer auf der Forch. Die Sonne scheint mit der Kraft des späten Augusts, eine Wolke verschmilzt mit dem Blau des Himmels, Bäume und Rasen leuchten in frischem Grün. Ein Raubvogel zieht majestätisch seine Runden, am Horizont sind die Glarner Alpen zu erkennen.

Der 79-jährige Raymond Guggenheim setzt sich auf eine Gartencouch in seinem Haus. Seit 44 Jahren wohnt er hier. Hier sind seine drei Kinder aufgewachsen. Hier hat er mit seiner Ehefrau Silvia ein kleines Paradies erschaffen: «Uns geht es sehr gut», sagt er und hätte eigentlich allen Grund, fröhlich zu sein. Dennoch blickt er nachdenklich in die Ferne: «Ich bin sehr besorgt, was in der Welt gerade geschieht.»

Dunkelheit hinter der Grenze

Guggenheim erinnert sich an seine bisher letzte Reise in die Ukraine. Es war im Herbst 2023, als er Hilfsgüter nach Czernowitz brachte. Via rumänische Kleinstadt Siret kam er ins Land – und realisierte sofort nach der Grenze: «Wir befinden uns in völliger Dunkelheit. Durch die russischen Angriffe wurde die Stromversorgung unterbrochen und ein grosser Teil der Infrastruktur zerstört. Es war ein sehr bedrückendes Gefühl.»

«Die Kinder haben für mich immer Priorität. Wenn es ihnen gut geht, geht es auch den Erwachsenen besser.»
Raymond Guggenheim

Bis zu seinem 50. Geburtstag war Guggenheim CFO eines schwedischen Konzerns: «Der Job füllte mich voll aus.» Aber irgendwann realisierte er: «Ich bin praktisch nie zu Hause, und es ist Zeit, etwas Grundsätzliches zu ändern und neue Prioritäten zu setzen.» Er habe schon immer den Wunsch gehabt, sich beruflich selbstständig zu machen – und so habe er nach der passenden Idee gesucht.

Jewish Culture Tours

So entstand Ende der 1990er-Jahre die Idee, als reisebegeisterter Jude jüdische Kulturreisen für Menschen mit Bezug zum Judentum zu organisieren. Gesagt, getan. Mit seiner Firma Jewish Culture Tours (JCT) begleitete er seine Reiseteilnehmenden an Orte, die sich abseits der grossen Touristenströme befinden – und einen Bezug zur jüdischen Geschichte und Kultur besitzen.

Die erste Reise führte ihn nach Marokko. Auf die Idee, die Ukraine in sein Angebot aufzunehmen, habe ihn der Filmregisseur Walo Deuber und dessen Dokumentarfilm «Spuren verschwinden» gebracht, der über die vergangene, lange jüdische Geschichte und Kultur in der Ukraine berichtet. Es sollte ein Wendepunkt in Guggenheims Leben werden: «Bei meinen Reisen stehen immer die Menschen im Zentrum», sagt er, «und die Ukrainerinnen und Ukrainer haben mich besonders berührt. Weil sie trotz Armut von herausragender Freundlichkeit, Grosszügigkeit und Hilfsbereitschaft sind.» Von deren Leid erschüttert, entschloss sich Guggenheim, den Verein Lifeline zu gründen, um der notleidenden  Bevölkerung in der Ukraine schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten, dort, wo es nötig ist.

In Maur abgeblitzt

Man spürt Guggenheims Emotionalität bei diesem Thema – und auch ein gewisses Unverständnis, dass er in der eigenen Gemeinde bisher keine offenen Türen vorgefunden habe: «Wir stellten in Maur schon einen Antrag auf Unterstützung, erhielten aber leider eine negative Antwort.»

Kinder stehen an erster Stelle

Dabei versuche er dort zu helfen, wo es die Menschen am meisten brauchen. Er erzählt, wie er vor rund 20 Jahren in Czernowitz sah, dass 300 Kinder hungrig zur Schule geschickt wurden. So habe er beschlossen, in der Schule eine Kantine und eine Küche zu bauen. Seither werden die Kinder täglich mit einer warmen Mahlzeit verpflegt. In der gleichen Stadt organisierte er für die «Ärmsten der Armen» eine Suppenküche, im belarussischen Bobrujsk eine Tagesstätte für schwerstbehinderte Kinder. Dazu sagt er: «Die Kinder haben für mich immer Priorität. Wenn es ihnen gut geht, geht es auch den Erwachsenen besser.»

14 humanitäre Transporte

Durch den russischen Angriffskrieg wurde seine Mission noch dringlicher. Seit Februar 2022 hat Lifeline mit seinen freiwilligen Mitarbeitern bereits 14 humanitäre Transporte organisiert. Rund 150 Tonnen Hilfsgüter im Wert von bald einer Million Franken konnte Lifeline seither an die vom Krieg betroffene Bevölkerung verteilen. Dies können Nahrungsmittel, Kleider, medizinisches Hilfsmaterial, Vitamine, Stiefel, Schlafsäcke, Stirnlampen, Generatoren und vieles mehr sein. «Aber auch medizinische Geräte, die uns von Spitälern und Ärzten gespendet werden, oder Sport- und Fitnessgeräte, die zu Therapiezwecken in Spitälern für Kriegsversehrte enorm wichtig sind.» Seither hat Guggenheim die Ukraine mehrmals besucht. «Wir stehen persönlich dafür ein, dass die Güter an den richtigen Ort kommen.»

«Die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Sie haben unsere Unterstützung verdient. Schliesslich verteidigen sie auch unsere Werte.»
Raymond Guggenheim

Auf die Frage, wann der Krieg endlich aufhört, antwortet Raymond Guggenheim mit einem traurigen Schulterzucken: «Das kann niemand sagen. Vieles hängt vom Westen ab.» Dass die Schweiz eher zurückhaltend agiere, verstehe er nicht. Wenn er sehe, was bei Lifeline im Kleinen möglich ist, müsste von der offiziellen Schweiz mehr kommen. «Die Menschen in der Ukraine brauchen unsere Hilfe. Und sie haben unsere Unterstützung verdient. Schliesslich verteidigen sie auch unsere Werte.»

Auf der Forch herrscht Frieden. An Tod und Zerstörung ist an diesem wunderschönen Nachmittag kaum zu denken. Und doch liegt das Unfassbare näher, als wir denken – viel näher. Raymond Guggenheim hat es mit eigenen Augen gesehen.

Dieser Beitrag ist am 30. August 2024 in der «Maurmer Zeitung» erschienen.

Weitere Informationen: www.lifeline.help

Thomas Renggli, Redaktion «Maurmer Zeitung»